Interview mit einem Nachhilfelehrer

Rainer Saurugg im Interview mit sich selbst

Graz, am 1.1.2018

 

Zu Beginn starten wir mit einer einfachen Frage: Wie wird man eigentlich Nachhilfelehrer?

 

Ich glaube, der Beruf des Nachhilfelehrers ist etwas, das sich ergibt. Niemand plant das während seiner Ausbildung. Ich selbst habe während meiner Zeit als Student nie Nachhilfe gegeben. Erst als ich von meinem Auslandsjahr als Lehrer in New York zurückgekommen bin und damit konfrontiert war, dass sich kein weiterer Job als Lehrer auftat, wurde das Nachhilfe-Geben eine realistische Option, zumal ich als Erwachsenenbildungstrainer nur einen Halbtagsjob bekommen hatte. Also wollte ich auf einer zweiten Schiene Geld dazuverdienen. Grundsätzlich hatte ich als Schüler selbst von der dritten Klasse bis zur Matura Nachhilfe in Mathematik, immer nur ein paar Stunden vor jeder Schularbeit. Ich war also immer gut vorbereitet und hatte daher keine Schwierigkeiten. Dieses Gefühl von „Ich kann meine Herausforderungen mit Unterstützung meistern“ dürfte ich wahrscheinlich positiv abgespeichert haben.

 

Woher kam dann der erste Schüler bzw. die erste Schülerin? Aus dem Bekanntenkreis?

 

Weit gefehlt. Es dauerte lange, bis sich das herumgesprochen hatte. Ich habe 2005 den direkten Weg gewählt und am Sprechtag den Eltern beim Betreten des Schulhauses freundlich einen Zettel in die Hand gedrückt. Rückblickend sehe ich es als meinen Vorteil an, damals als junger Erwachsener einen guten Eindruck hinterlassen zu können. Neben mir hat ein junger Mann mit Kapuze und Musik im Ohr wortlos die Prospekte eines Nachhilfeinstituts ausgeteilt … das war nicht wirklich eine Konkurrenz. Ich hab aktiv den persönlichen Kontakt gesucht. Es geht ja um eine persönliche Dienstleistung.

 

Haben Sie damals auch Hausbesuche angeboten?

 

Ja natürlich. Wenn du am Anfang über jede einzelne Nachhilfestunde froh bist, dann fährst du auch quer durch Graz. Ich hab es damals an diesem ersten Elternsprechtag explizit angeboten, aber ich wurde  mehr darauf angesprochen, ob und wo ich zuhause unterrichten würde. Ich glaube, dass Hausbesuche werbetechnisch gut klingen, die Kunden aber eher ihre Ruhe haben wollen. Du betrittst ja ihren privaten Bereich, wenn du dann dort am Wohnzimmertisch oder im Kinderzimmer unterrichtest. Sobald du dort als Lehrer auftauchst, bist du auch gleichzeitig Gast und bekommst klassisch einen Kaffee samt Kuchen angeboten.

 

Würden Sie heute grundsätzlich Hausbesuche durchführen? 

 

Zu 99 Prozent nein. Es fehlt einfach die Zeit dafür: Hinfahren, Parkplatz suchen, unterrichten, Auskunft geben und kurz tratschen, zurückfahren. Die Zeit um die eigentliche Stunde herum bezahlt dir ja niemand. Und wenn dann der nächste Schüler schon woanders auf dich wartet, dann entsteht Stress, weil du ja deine Termine einhalten möchtest. Ich erinnere mich gut daran, wie ich zu Beginn meiner Karriere regelmäßig über 20 Kilometer weit in den Süden von Graz gefahren bin, um zu unterrichten. Das Schöne am Land ist, dass du dann bald den Sohn vom Nachbargrundstück als Kunden hast. Das spricht sich schnell herum.

 

Wie haben Sie Ihre eigene Zeit als Nachhilfe-Empfänger vor gut 25 Jahren erlebt?

 

Angefangen hat es damit, dass mein Vater mir nicht mehr bei Beispielen der dritten Klasse Gymnasium helfen konnte. Und wenn, dann nur auf seine Art, die aber nicht kompatibel mit dem Erklärungsmuster meines Mathelehrers war. Also waren meine Eltern irgendwann besorgt und griffen auf den Nachhilfelehrer zurück, der 30 Jahre zuvor bereits meinen Vater unterrichtet hatte. Und dieser ältere Herr gab damals immer noch Nachhilfe. Er muss Mitte bis Ende 70 gewesen sein.

 

War das ein Problem? Wie war Ihr Verhältnis zueinander?

 

Als autoritätshöriges Kind war das für mich in Ordnung. Ich bin brav daneben gesessen, das Füllhorn des Wissens wurde über mir ausgeschüttet und am Ende gab es mindestens 30 Beispiele Hausübung bis zum nächsten Mal.

Meinen Eltern war es natürlich wichtig, dass ich „funktioniere“: Sie bezahlen die Nachhilfe und ich gehe brav hin und mache alle Aufgaben. Weil sonst „nimmt er dich nicht mehr!“. Das war wohl die größte Angst: Was tun, wenn kein Nachhilfelehrer verfügbar ist? Ich habe es nie herausgefunden … Würde ich heute alle SchülerInnen rausschmeißen bzw. den Eltern die Zusammenarbeit kündigen, weil ihre Kids keine Hausübung machen, dann säße ich bald alleine da. 

Interessant, dass Sie das Verhältnis ansprechen. Ich hatte kein wirkliches zu ihm. Er war freundlich, aber unnahbar. Es gab keine persönlichen Worte zur Auflockerung, es gab einen klaren Unterricht. 

 

Und der Unterricht?

 

Meistens schrieb er mir die „Anleitungen“ ins Heft, seitenweise. Dann gab es rund 30 Beispiele zur Aufgabe. Und beim nächsten Mal stellte ich alle Fragen, die für mich offen geblieben waren. Sehr einfach gestrickt! Es gab – im Gegensatz zu heute – keine Kopien, keine Webseiten oder Apps zur Veranschaulichung. Es war ja auch kein Büro da. Mein Nachhilfelehrer gab gemeinsam mit seiner Frau Mathematikunterricht, den ganzen Tag lang von der Früh bis zum Abend, von Montag bis Donnerstag. Da vor und nach mir immer jemand anderer da war, gehe ich von einer Art Fließbandbetrieb aus. Er hat auch während der Arbeit seine Jausenbrote gegessen, mir mein Heft damit vollgebröselt und dann die Brösel gemeinsam mit den Radierkrümel vom Heft gewischt. Es lief alles sehr routiniert ab, ohne Hektik. Er war die Ruhe selbst und seine Wohnung, die im Tapezierungsniveau der 70er Jahre stehengeblieben war, wirkte entschleunigend. Ich saß an einem kleinen Tisch und hatte genau genug Platz für mein Heft und mein Schreibzeug. Er saß daneben mit überkreuzten Beine und hatte mein Schulbuch in der Hand. Wenn ich daran denke, wie viel Platz heute meine SchülerInnen brauchen, damit diverse Mappen, Bücher, Übungshefte und -zettel und Laptop startklar sind. Gab’s damals nicht.

 

Eine jede Zeit hat ihre eigene Nachhilfe …

 

Auf jeden Fall. Das Hauptaugenmerk lag ja am Üben und Festigen. Irgendwann hatte ich mit seiner Hilfe fast alle Beispiele durch. Und zur Schularbeit kam ja nichts Neues, sondern etwas aus den bisherigen Hausübungsbeispielen. Damals machte das klassische Üben nach Schema F ja Sinn, um eine positive Schularbeit zu schreiben. Es hat niemand nachgefragt, ob du es verstanden hast, geschweige, ob du nachhaltig gelernt hast. Heute glauben wir dafür, dass alles nachhaltig sein muss. Ich sag meinen MaturantInnen immer, dass sie nach dem zweiten Kübel Sangria auf der Maturareise eh alles vergessen haben werden ...

Die Generation meiner Kunden (gemeint die Eltern) hat selbst noch anders gelernt und geübt und hat daher wenig Einblick in die neuen Prüfungsmodalitäten, auch wenn der Stoff namentlich der Gleiche ist. 

 

Eine abschließende Frage zu Ihrer eigenen Zeit als Nachhilfeschüler: Was würden Sie Ihren damaligen Nachhilfelehrer gerne fragen?

 

Mich würde interessieren, was sein eigentlicher Brotberuf war bzw. ob er je einen hatte. Er war zu meiner Zeit sicherlich schon in Pension und hatte dadurch einen Zusatzverdienst. Wie ich schon vorher erwähnt habe, war er unnahbar. Ich wusste nichts von ihm. Erst durch meinen Vater habe ich seinen Vornamen erfahren und dass er wahrscheinlich sein Studium der Mathematik oder Chemie nie abgeschlossen hatte. Wir wussten sonst nichts, außer dass er den ganzen Tag unterrichtet und einen guten Ruf als „Instruktor“ genossen hatte. Ich würde gerne wissen, wie verlässlich die SchülerInnen damals waren, ob es oft Ausfälle und Terminverschiebungswünsche gab, und wie er mit herausfordernden Situationen umging.  Hätte er wirklich aufgehört mich zu unterrichten, wenn ich keine Aufgabe mitgebracht hätte? Ich glaube nicht … 

Heute kommuniziere ich mit meinen SchülerInnen laufend via WhatsApp, Facebook und SMS … er hatte einen Wandapparat im Vorzimmer und nahm von Zeit zu Zeit die Anrufe entgegen. Es war eine andere Zeit. 

 

Kommen wir zur Jetzt-Zeit. Warum brauchen die SchülerInnen so viel Nachhilfe? Versagt unser Schulsystem derart?

 

Ich würde hier nicht von Versagen sprechen. Unser Schulsystem mit allen historischen Facetten (von der Volkschule als einzige Gesamtschule über die Hauptschule für alle und das ehrwürdige Gymnasium für wenige BildungsbürgerInnen bis zur getrennten Ausbildung von Landes- bzw. BundeslehrerInnen) ist nicht darauf ausgelegt, diese Leistungen zu übernehmen. Der Unterricht dient dazu, den Mathematik-Stoff in drei Wochenstunden in die SchülerInnen „hineinzudrücken“. Politisch verlieren wir uns gerne in Diskussionen über Individualisierung, Begabtenförderung und fächerübergreifende Projektarbeit. Diese Dinge sind für die gesellschaftliche Außenwirkung interessant und kosten vor allem kein Geld. Aber das System ist nicht darauf ausgerichtet zu fördern. In meiner Zeit als Lehrer in New York hätte ich am frühen Nachmittag bezahlte Überstunden leisten können, damit SchülerInnen mit ihren Fragen zu mir kommen. Das war strukturell vorgesehen und ein Angebot an alle! Es ist eine tolle Sache, wenn du als Lehrer SchülerInnen helfen kannst, die aktuell nicht aus deinen Klassen sind. Das ist eine ganz andere Atmosphäre, da schwingen auf beiden Seiten kein Alltag und keine Stereotypen mit. Bei uns gibt es als "Gnadenakt" den Förderunterricht mit derselben Lehrperson, wo es die normalen drei Stunden schon nicht funktioniert. Für unsere SchülerInnen ist es bloß eine weitere Stunde Mathematik. Das sollte uns zu denken geben …

Das System Schule interessiert sich nicht dafür, wann du wie was (nach)lernst. Es ist eine völlige Utopie, ein Jahr Mathematik über den Sommer alleine nachzulernen. Das Schulbuch funktioniert nur in Verbindung mit einer Lehrperson und irgendwer muss ja auch da sein, der dir hilft, die Schwächen aus früheren Schuljahren aufzuarbeiten. Da gibt es keine Verantwortlichkeit der Schule. Die Schule ist im Sommer zu und deinen LehrerInnen siehst du erst zu Schulbeginn. Punkt.

 

Kann man pauschal sagen, dass LehrerInnen eine gewisse Mitschuld an der ganzen Misere haben?

 

LehrerInnen können nicht das System ändern, das ihnen ihre Tätigkeiten und Verpflichtungen vorgibt. Du musst mit den Möglichkeiten, die dir geboten werden, einen Weg für deinen beruflichen Alltag finden. Mir ist als Mensch, Steuerzahler und Nachhilfelehrer einfach wichtig, dass LehrerInnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles tun, um ihre SchülerInnen beim Lernen und Üben zu unterstützen. Hier geht es um passende Übungsmaterialien, Lösungen zu Tests und Schularbeiten, Extra-Unterlagen auf Lernplattformen etc. Du wirst niemals 100 Prozent deiner SchülerInnen erreichen und motivieren können, aber alle, die gewillt sind, sollen eine Chance haben. 

 

Blicken wir nun gemeinsam auf mehr als 15 Jahre Nachhilfeunterricht zurück. Was ist gleich geblieben? Was hat sich geändert?

 

In meinen Anfängen  war ich viel öfter als „typischer“ Nachhilfelehrer tätig. Man arbeitet gemeinsam auf Termine hin und fertig. Natürlich gab es auch immer wieder das „Feuerlöschen“ bei ultraknappen Terminen vor der Schularbeit. Gerade in diesem Punkt möchte ich behaupten, dass ich mir meine SchülerInnen über die Jahre erzogen habe. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, verantwortlich für die eigene Terminplanung zu sein! Und Schularbeitentermine sind lange im Voraus bekannt. In den Anfängen habe ich sogar am Sonntag mit SchülerInnen gelernt, weil „plötzlich“ am Montag Schularbeit war. Warum soll der Nachhilfelehrer das ausbaden, was die jungen Leute oder die Eltern an Terminweitblick verabsäumt haben? 

In den letzten Jahren wurde ich vermehrt zum Zweitlehrer, d.h. ich unterrichte viele SchülerInnen ein- bis zweimal pro Woche während des ganzen Schuljahres. Es geht hier mehr in die Richtung einer Begleitung, die Sicherheit und Kontinuität bedeutet. Auf der anderen Seite entsteht natürlich auch eine gewisse Abhängigkeit. 

 

Nachhilfestunden belasten natürlich das elterliche Budget. Gibt es so etwas wie einen „gerechten“ Preis für eine Stunde Mathematikunterricht?

 

Auch das Rauchen und neue iPhones belasten das familiäre Budget. Aber jetzt im Ernst: Nachhilfe ist eine persönliche Dienstleistung wie Fußpflege, Physiotherapie, Massage oder der Friseur. Klassischerweise kosten in allen vier Fällen 60 Minuten mehr als bei der durchschnittlichen Nachhilfe. Die typischen Preise bei StudentInnen sind reine Netto-Preise. Wenn du aber Einkommenssteuer und Sozialversicherung wie auch Kosten fürs Büro usw. hineinrechnest, kannst du nicht für 20 Euro eine Stunde lang unterrichten.

Daher stelle ich eine  Gegenfrage: Wäre die perfekte Nachhilfe gratis? Es gibt den alten Spruch „Was nix kost’, ist nix wert!“ Nachhilfe soll ja helfen, mit bestimmten Situationen zurecht zu kommen und diese mit Unterstützung zu meistern. Und dazu braucht es auch das Commitment der Eltern, typischerweise in Form von Geld, das Commitment des Nachhilfelehrers, alles zu tun, was möglich ist, und jenes des Kindes, sich  zu bemühen und seinen Teil nach eigenen Kräften beizusteuern. Ich glaube auch, dass der Preis einer Nachhilfestunde immer wieder signalisieren soll, dass es sich um eine Ausnahmesituation und nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt. Und ein gewisser Preis schafft auch Verbindlichkeit, wenn es um das Einhalten von Terminen geht. Nachhilfe darf nicht in einer Reihe mit Fußballtraining und Hip-Hop-Tanzen stehen. Ich sehe immer wieder, dass die jungen  Leute an zwei Nachmittagen in der Woche Schule haben und an weiteren vier Nachmittagen zum Ballett oder zum Fußballtraining müssen. Und neben dem Lernen für den Physiktest sollen sich auch noch Nachhilfe und Übungsbeispiele ausgehen. Irgendwann ist es einfach zu viel ...

 

Sie als Nachhilfelehrer und EPU (Ein-Personen-Unternehmen) profitieren also von dem Unvermögen des Schulsystems, die eigenen SchülerInnen ausreichend zu fördern. Sehen Sie das auch so?

 

Jede KFZ-Werkstätte profitiert davon, dass Ihr Auto durch Benutzung kaputt wird und Reparaturen benötigt. Jede Psychotherapeutin profitiert davon, wenn es Ihnen nicht gut geht. Es gibt genügend Bespiele für solche Abhängigkeiten. So funktioniert die Wirtschaft. 

Ich bin der Erste, der sich freut, wenn unser Schulsystem effektiver arbeiten würde und mehr Ressourcen direkt bei den SchülerInnen ankämen. Ich wäre dankbar für jede Förderung meiner SchülerInnen. Ich wäre dadurch in keinster Weise arbeitslos, sondern meine SchülerInnen würden weniger Nachhilfestunden benötigen, für die Eltern käme es billiger und ich hätte Zeit für mehr KundInnen. 

 

Zum Abschluss: Sie wurden vor kurzem 40. Stichwort: Karriere als Nachhilfelehrer. Was planen Sie für die nächsten 10, 20 Jahre?

 

Als Unternehmer geht es mir darum, meine beiden Ressourcen Zeit und Gesundheit möglichst gut im Arbeitsalltag im Austausch gegen Geld einzusetzen. Als Dienstleister werde ich meine Standards in punkto Verlässlichkeit, Professionalität und persönlichem Engagement beibehalten. Die typischen Nachhilfe-Unternehmer beschäftigen ab einem gewissen Zeitpunkt StudentInnen und lagern damit die Unterrichtstätigkeit aus. Das kommt für mich aber nicht in Frage, da meine persönliche Dienstleistung ja mit meiner Person verbunden ist, ähnlich wie bei einem Therapeuten. 

 

Das heißt: Nachhilfe bis zur Pension?

 

Aus heutiger Sicht: Ja.

 

Danke für das Interview!

 

Graz, am 1.1.2018